Graubünden-Marathon 2010:
Über die Härte des härtesten Marathons der Welt


 
1994 habe ich mit dem Laufen begonnen. Damals noch in Bregenz wohnhaft, fand ich bald Anschluss an die LSG und die regelmäßige Teilnahme an der Laufgruppe war für mich sowohl eine sportliche als auch mentale Unterstützung in der Verbesserung meiner Leistungsfähigkeit. Als Greenhorn konnte ich, für den damals auch nur ein Halbmarathon völlig utopisch war, von den erfahrenen Läuferinnen und Läufern sehr profitieren. Als ausgewiesener Freizeitläufer, der als angestellter Arzt mit Nacht- und Wochenenddiensten, als Familienvater und vielseitig interessierter Mensch mit einer Reihe von Hobbys nur begrenzt Zeit zum Laufen aufbringen kann, ging es dann doch überraschend schnell und ich konnte schon zwei Jahre später in Wien, mit 38 Jahren, meinen ersten Marathon beenden. Auf der Suche nach neuen Zielen habe ich mit dem Berglaufen begonnen, was zunächst mit großen Mühen verbunden war, aber irgendwann schaffte ich meinen ersten Pfänder und schließlich auch meinen ersten Bergmarathon in Liechtenstein. Von da an habe ich – größtenteils mit meiner Laufkameradin Ulrike Grauer – an den meisten Bergmarathons unserer Region teilgenommen, z. B. dem Jungfrau-Marathon, dem Swiss Alpine in Davos oder dem Hochgrat Marathon im Allgäu. Unvergesslich wird mir der Anblick des Matterhorns beim Zermatt-Marathon bleiben. Der 7.7.07 und die Startnummer 707 haben mir Glück gebracht, da von den 15 bisherigen Zermatt-Marathons witterungsbedingt das Matterhorn nur zwei- oder dreimal zu sehen gewesen sein soll. Ulrike und ich haben aber auch schon einmal kehrt gemacht, etwa in Galtür aufgrund schlechten Wetters und Nebels. Es schien uns einfach zu gefährlich.

 

Irgendwann einmal habe ich dann erfahren, dass es auch in Lenzerheide einen Lauf gibt, den Graubünden-Marathon. Als ich im Internet die Seite http://www.graubuenden-marathon.ch/ aufgerufen habe, strahlte mir in heller Schrift auf schwarzem Grund entgegen: „Der härteste Marathon der Welt“. Das, muss ich zugeben, hat mich ordentlich erschreckt. Während die bisherigen Bergmarathons eine Höhendifferenz von maximal 1.800 Metern aufwiesen, würde die Strecke von Chur über Churwalden und Lenzerheide aufs Rothorn 2.600 Meter ausmachen. 42,2 km und 4 ½-mal den Pfänder als Höhendifferenz. Wie sollte das gehen?

 

Nun, es ist gegangen – im wahrsten Sinne des Wortes. Der Aufstieg aufs Rothorn war nach dreißig Kilometern und ca. 1.300 Metern Höhendifferenz nur mehr in kleinen Schritten möglich. Aber jeder davon hat uns unserem Ziel näher gebracht. Sicher: es hat über sieben Stunden gedauert, aber wir sind dem Besenwagen noch von der Schippe gesprungen. Dieser war in Gestalt eines Mountainbikers unterwegs, der einen großen und langen Besen an den Rahmen gebunden hatte. Diesen Lauf geschafft zu haben, gehört zu den glücklichsten Erfahrungen meines Lebens. An der Bergstation angekommen, konnte ich nichts Anderes tun als auf einen Tisch zu sitzen, über die Gipfel zu starren und irgendwelchen Tränen freien Lauf zu lassen – vor Glück, vor Rührung, vor Erschöpfung oder was auch immer das war.

 

Auch letztes Jahr haben wir diesen Lauf noch einmal gemacht und ebenso heuer, am 26. Juni 2010. Wegen Renovierungsarbeiten war die Bergstation am Rothorn gesperrt und so sollte ein anderer Gipfel angesteuert werden, der Piz Scalottas mit einer etwas geringeren Höhendifferenz.

 

Heuer bin ich aber erstmalig in eine Krise gekommen. Ich denke, gut vorbereitet gewesen zu sein, zumindest nicht schlechter als die Jahre zuvor. Trotzdem bin ich die letzten Kilometer – wie es umgangssprachlich heißt – „eingegangen“. Es war auf einmal nichts mehr da, nur Leere, Schwäche und Frust. Es hat sich so angefühlt, als ob das Leben in meinem Körper nur noch auf einen ganz schmalen Bereich zusammengeschrumpft wäre, der all seine Energie und Aufmerksamkeit darauf konzentrieren muss, einen nächsten Schritt zu setzen – einfach nur diesen Schritt. Mehr geht nicht. Und nach diesem Schritt ging es doch wieder von vorne los. Nur ein Schritt. Mehr geht nicht. Und ein weiteres Mal. Und wieder, noch ein Schritt. Ein Blick zur Bergstation. Ein schwarzer Punkt auf grünem Grund vor blauem Himmel. Und ein Weg. Wieder ein Schritt. Wird der Punkt größer? Kaum merklich. Leute laufen vorbei. Den haben wir doch einmal überholt, oder? Und die auch, das Bunte Laufhemd. Alle ziehen vorbei. Und der nächste Schritt. Und sie grüßen auch noch freundlich. Am liebsten würde ich gar niemanden mehr sehen, auch mich selber nicht. Wieder ein Schritt geschafft. OK. Und jetzt noch ein Schritt. Sterben kann ich später. Nächster Schritt. Ein Schritt für Mama, ein Schritt für Papa, ein Schritt meine Frau und zwei Schritte für meine Söhne. Hört denn das nie auf? Und so fort.

 

Ohne die mentale Unterstützung von Ulli hätte ich es nie und nimmer geschafft, aber so ging es dann doch irgendwie und es hat mich mein dritter Graubünden-Marathon sehr zweiflerisch hinterlassen. Natürlich überwiegt die Freude, es halt doch wieder geschafft und mich überwunden zu haben und nachträglich schaut ja alles nicht mehr so schlimm aus. Trotzdem: Derartige Gedanken mögen eher dazu dienen, sich zu trösten und den Umstand zu verdrängen, dass mit zunehmendem Alter eben auch die Leistungsfähigkeit nachlässt. Es hat mich nachdenklich gemacht, wenn sich statt dem Glücksgefühl und Freudentränen Enttäuschung und ein Kampf gegen Übelkeit und Brechreiz auftreten. Der Brechreiz hat gewonnen.

Nun habe ich ja eine Wintersaison lang Zeit, mich neu zu orientieren. Soll ich resignieren und zum Graubünden-Marathon sagen: „Ja, das war’s dann“? Oder nehme ich die Herausforderung an und lass mich von einem verkorksten Lauf nicht unterkriegen? Wird sich ein „Jetzt erst recht“ etablieren?“ Vielleicht steuert es auf die Lösung zu, 2011 einmal etwas anderes zu machen und dann weiter zu sehen.

 

Mein innerer Zwist soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim Graubünden-Marathon um einen wunderbaren Lauf handelt, der – wie in der Schweiz üblich – hervorragend organisiert ist. Es gibt im Startbereich der Quadernwiesen in Chur keinerlei Parkplatzprobleme, der Gepäcktransport klappt immer ausgezeichnet und die Route ist sehr schön. Sie führt zunächst durch die Altstadt von Chur über eine leicht ansteigende Straße an einem Flusslauf entlang Richtung Churwalden, es gibt dort ein paar Stiche, aber die Belastung ist nicht groß. Von Churwalden führt die Strecke wieder etwas bergab und es geht durch einen Walt nach Lenzerheide, wo der See umrundet wird. Bis dahin ist die Hälfte des Anstiegs auch schon geschafft und inzwischen ist aber auch schon das Rothorn ins Blickfeld geraten, welches so ab Kilometer 31 bezwungen werden muss. In meinem Leistungsbereich ist es utopisch, diese Stecke joggend zu erklimmen, vielmehr ist es ein zunächst zügiges Wandern, dann ein langsames Gehen, das sich bei dieser Steilheit zeitlich sehr in die Länge zieht. Jedenfalls haben wir für die letzten zehn Kilometer gleich lang gebraucht wie für die Strecke davor. Das „Rothorn“ macht seinem Namen alle Ehre, es steht der Berg singulär da und das Gestein hat eine rötliche Färbung. Es gibt keine gefährlichen Abschnitte und der Blick vom Gipfel ist sensationell. Die Abfahrt mit zwei Seilbahnen nach Lenzerheide ist unkompliziert. Wer wie Ulli einen Ehemann hat, der seine Frau und ihren Laufkameraden mit dem Auto chauffiert, kann dort schon ins Auto steigen und nach Hause fahren, die anderen müssen mit einem Shuttle oder einem Bus von Lenzerheide nach Chur kommen. Das ist wahrscheinlich der größte Schwachpunkt und es empfiehlt sich, sich vorher gut darüber zu informieren.

 

In der Vorbereitung bin ich als leidenschaftlicher Nicht-Wintersportler wahrscheinlich etwas benachteiligt. Ulli, die nicht nur Bergsteigen geht, sondern im Winter viele Schitouren macht, hat dann für den entscheidenden letzten Abschnitt die Mukis in den Beinen, die mir fehlen. Ein gezieltes Krafttraining für die Beine ist beim Berglaufen sicher kein Schaden. Ansonsten ist es bei meiner Vorbereitung zweimal recht und einmal schlecht gelungen. D. h.: Unter der Arbeitswoche drei- bis viermal am Morgen eine Stunde zu laufen und an den Wochenenden ein- bis zweimal etwas längeres (bis zu drei Stunden) zu machen genügt, in den zwei bis drei Monaten zuvor habe ich mein Pensum allerdings noch etwas gesteigert, zu einem Ritual ist ein „Doppelpfänder“ am 1. Mai geworden.

 

Zusammenfassend kann ich allen, die an Bergläufen interessiert sind, diesen Lauf nur empfehlen und den „härtesten Marathon der Welt“ dreimal geschafft zu haben, kann mir niemand mehr nehmen, was auch immer die nächsten Jahren bringen werden. Und das möchte ich nicht vermissen.

 

Roland Wölfle, 2.9.2010